„Oma“, so nannten wir sie nie, unsere Großmutter, die Mutter unseres Vaters. Ich habe nur eine Erinnerung an sie: Eine kleine, dünne Frau mit grauen Haaren und dunklen Augen. So wie viele Frauen meiner Kindheit trug sie einen Hut.
Behütet war sie vielleicht gewesen, in ihrer Kindheit. Vielleicht sogar überbehütet. Und vielleicht wollte sie ausbrechen aus der Enge des Dorfes. Ich weiß es nicht, kann es nur vermuten.
Ich kann natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich jemals so zugetragen hat, doch habe ich sie so in Erinnerung: Sie steht im Wohnzimmer unseres Elternhauses, ich bin vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, und sie setzt sich zu mir auf den Teppich. Sie spricht mit mir. Sie ist nicht unfreundlich, aber sie ist mir fremd. Mein Bruder, acht Jahre älter als ich, erzählte mir kürzlich, sie hätte eine sehr laute Stimme gehabt. Und er habe sich vor ihr gefürchtet. Ich erinnere mich weder an ihre Stimme, noch daran, dass ich mich gefürchtet hätte.
Viele Jahre habe ich weder an sie gedacht, noch über sie nachgedacht. Mein Vater hatte kein gutes Verhältnis zu ihr. Sie lebte in einem Holzhaus am Rande des Dorfes. Sie starb, als ich sieben Jahre alt war, im Oktober 1969. Sie war, so heißt es, eine seltsame Frau. Und sie führte ein seltsames Leben. Als Mutter eines Sohnes, der im Sommer 1922 zur Welt gekommen war. Und als verlassene Ehefrau eines Mannes, der über Jahrzehnte eine mysteriöse Figur für uns war. Dies ist die Geschichte meiner Suche nach diesem Mann, der der Vater unseres Vaters war. Sein Name: Ernst Kaiser.